#139 „Luchando“

„Estoy luchando“ ist die Standardantwort, wenn man einem Kubaner nach seinem Wohlbefinden fragt. Treffender könnte man das Lebensgefühl von Kuba nicht beschreiben.

„Estoy luchando“ bedeutet „Ich bin am überleben“. Wort wörtlich sogar „Ich bin am kämpfen“ was der Realität noch näher kommt. Das Leben im sozialistischen Kuba ist ein einziger Kampf. Vom Morgen früh bis am Abend spät suche ich nach Lebensmitteln oder einfachsten Gebrauchsgegenständen. Der steinzeitliche Ausdruck „Jäger und Sammler“ erhält in Kuba eine komplett neue Bedeutung. So verlasse ich jeden morgen meine Wohnung ohne genau zu wissen was ich abends nach Hause bringe.

Gestern wollte ich mir zum Beispiel Spagthetti Bolognaise kochen. Mit drei Zutaten (Spaghetti, Tomatensauce und Hackfleisch)* ist das eines der komplexeren Gerichte, die man sich hier in Kuba zubereiten kann. Da es keine Tomatensauce gab, entschied ich mich für Pizza. Leider gibt es seit Monaten kein Käse, weshalb ich mir Hühnchen mit Reis kochen wollte. Im Moment ist aber das Pouletfleisch ausverkauft. Also blieb mir nur noch Hamburger, das klassische zweikomponenten Gericht. Leider fand ich kein Hackfleisch, das ist seit letzter Woche „verschwunden“. Am Ende habe ich dann Hamburgerbrot mit Würstchen gegessen, sozusagen ein „Hamburger Caliente“ statt ein „Perro Caliente“. Zum Glück ist der Mensch ein Allesfresser und ich spontan.

Die staatliche Warenversorgung ist ein einziger Witz: Die wenigen Lebensmittel sind entweder vergriffen, völlig überteuert, komplett nutzlos, minderwertig** oder alles zusammen. Die Dienstleistung kann man am besten als amüsant bezeichnen. Zu Jahresbeginn waren zum Beispiel alle staatlichen Läden für eine Woche wegen Inventar geschlossen. Keine Ahnung wie mancher Ausländer dabei verhungert ist, der das vorher nicht wusste und keinen Notvorrat angelegt hat. Bei einem sehr übersichtlichen Warenangebot von maximal 40 Artikel habe ich keine Ahnung was eigentlich 5 Tage lang gezählt wurde. Zum Spass habe ich jeweils die Ladentür geöffnet und „Hört auf zu zählen. Es sind genau 37 Artikel!“ in den Laden geschrien was bei den Verkäuferinnen eher auf Unverständnis stiess. Seit dem Jahreswechsel muss das Personal zudem die 12-stellgen Strichcodes von Hand eingeben, weil diese fürs neue Jahr nicht programmiert wurden. Meistens fällt dann noch die Kasse aus, weshalb die Kunden in der Schlange der Verkäuferin beim zusammenzählen helfen. Natürlich muss wegen der fehlenden Strichcodes nun alle zwei Wochen Inventar gemacht werden. Mein persönlicher Favorit sind aber die Waren, die „noch nicht im Verkauf“ sind. Sie stehen zwar im Warenregal, dürfen aber nicht gekauft werden was besonders viel Spass macht, wenn man vorher eine halbe Stunde angestanden und hungrig ist.

Schwieriger als Lebensmittel sind einfache Gebrauchsgegenstände wie Glühbirnen, Steckdosen oder Türschlösser zu finden. Die gibt es in den staatlichen Läden praktisch nie, weil sie bereits beim Transport in die Läden „verschwinden“. Um solche Artikel zu kaufen stelle ich mich vor das staatliche Eisenwarengeschäft – wo die Ware eigentlich angeboten werden sollte – und warte bis mir en „Dealer“ vor der Ladentür zuzwinkert. Wegen den Überwachungskameras ziehen wir uns darauf in einen schummrigen Hinterhof zurück wo mir die „heisse“ Ware angeboten wird. Als ich neulich gerade eine „illegale“ Steckdose in den Händen hielt, kam die Polizei um die Ecke. Alle Händler flohen worauf auch ich in einem Hauseingang rannte um nicht mit einem Beweisstück erwischt zu werden. Ja, dank dem kubanischen Sozialismus hat der Wahnsinn endlich einen Namen.

Die Ineffizienz hat hier System und zieht sich durch alle Bereiche des täglichen Lebens. Überall Schlangen, Technologie aus dem Museum, regelmässige Stromausfälle, Infrastruktur aus dem letzten Jahrhundert*** und umbrauchbare Telekommunikation****. Nichts funktioniert, nichts macht Sinn! Doch genau das scheint das Geheimnis des einzigen Vorteil des Systems zu sein: Im Gegensatz zur „westlichen Welt“ herrscht hier eine einzigartige Solidarität unter der Bevölkerung! Nur in der Gemeinschaft ist der Alltag zu bewältigen, nur im täglichen Gespräch werden Informationen ausgetauscht, nur durch Bekanntschaften sind Waren im Schwarzmarkt käuflich. Erst das Versagen des Sozialismus schweisst die Kubaner zu einer starken Gemeinschaft zusammen, zu einem Volk mit unbändigem Überlebenswillen.

In diesem Sinne: „Hasta la victoria siempre!“

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* Gewürze oder Reibkäse gibt es in der sozialistischen Weltauffassung nicht. Es ist ja schon Luxus genug, dass man aus Teller ist und dazu Besteck braucht, nicht?
** überteuert = Ein einfacher Salzstreuer für 29 USD. –  nutzlos = Mein aktueller „Lieblingsladenhüter“ sind rosarote Reitsteigbügel, die im Lebensmittelladen verkauft werden?! –  minderwertig = Das verkaufte Pouletfleisch ist regelmässig Monate über dem Ablaufdatum. Der Verdacht liegt nahe, dass ausländische Fleischproduzenten ihren „Abfall“ in Kuba an korrupte Beamte verkaufen, statt ihn sachgerecht zu entsorgen.
*** Strom wird mit Erdölgeneratoren generiert, die von vor der Revolution stammen (1957). Die Stromleitungen wurden in La Habana gemeinsam mit Chicago als eine der ersten Städte weltweit unterirdisch verlegt. Das war 1930.  Mein Gebäude stammt aus 1926 und ist eines der stabilstem am Malecon.
**** SMS treffen mit bis zu 3 Tagen Verspätung ein, Emails sind nur im Textformat versendbar und Internet nur zu Randzeiten im Schneckentempo mit extremster Geduld abrufbar.

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