#137 Regellos

Nach 35’000 km auf Südamerikas Strassen wird es Zeit einen Blick in die Seele des einheimischen Autofahrers zu wagen. Schließlich erfährt man im täglichen Verkehr mehr über die Befindlichkeit eines Volkes als bei der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und beim Lesen von Reiseführern. Nach einem Jahr des täglichen Wahnsinns weiss ich mit Bestimmtheit: Es brodelt in der Seele des südamerikanischen Autofahrers, jedenfalls nördlich des Rio Platas*.

Wer das nicht glaubt, setzt sich einfach in einer südamerikanischen Stadt an eine befahrene Kreuzung. Bereits nach 15 Minuten stellt man überrascht fest: Es gibt gar keine festen Regeln! Selbst der vermeintlich kleinste gemeinsame Nenner – das Rechtsfahren – ist nicht garantiert. So schliessen die Taxifahrer an einer roten Ampel häufig links auf die Höhe des vordersten Fahrzeuges auf. Wer das Pech hat am Lichtsignal zuvorderst zu stehen, sieht sich beim Anfahren mit zwei entgegenkommenden Fahrzeugkolonnen konfrontiert. Das ist anfänglich ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Die einzig gültige Regel, ist das Gesetz des Stärkeren. Dabei ist nicht die Grösse des Autos massgebend: Die Schadensbereitschaft ist das Mass aller Dinge! Wer zuerst ausweicht, hat verloren. Genau wie es in jedem „Fast and Furious“ Film zelebriert wird, nur eben im richtigen Leben. Anfänglich war ich mit meinem Auto übervorsichtig. Heute weiss ich, dass ich mir den Respekt der anderen Verkehrsteilnehmer durch ein paar haarsträubende Manöver verdienen muss. Nur so komme ich sicher durch den Tag.

Der südamerikanische Strassenverkehr ist nichts für Weicheier. Es ist fatal „schwächeren“ Verkehrsteilnehmern den Vortritt zu gewähren. So habe ich bereits in Kuba gelernt, dass solches Verhalten bei Fussgängers zu grosser Verwirrung führt. Anfänglich wissen sie nicht was zu tun ist. Sobald sie dann die Strasse überqueren, laufen sie Gefahr von den an mir vorbeifahrenden Autos erfasst zu wurden.

Interessant ist auch, dass Fahrspuren von den Verkehrsteilnehmern eher als optische Aufwertung der Strassen verstanden werden. Am liebsten fährt der Südamerikaner mitten auf zwei Spuren, als ob die Trennlinie eine Art Stromabnehmer sei. So bleibt man immer flexibel und kann jederzeit auf die eine oder andere Seite abbiegen.

Wirklich überraschend ist aber die Funktionsweise der lateinamerikanischen Autos. Von aussen sehen sie unseren Fahrzeugen zwar verdächtig ähnlich. Aufgrund des Fahrverhaltens muss aber die Bauart gänzlich anders sein. So fehlt beim südamerikanischen Auto die Bremse komplett. Sie wird durch hupen und gleichzeitiges Gas geben substituiert. Am besten kannst man das als Fussgänger beobachten, wenn man versucht vor einer Autokolonne über den Zebrastreifen zu gehen. Egal ob rot oder grün ist, mit Bestimmtheit hupen die Fahrer und beginnen gleichzeitig zu beschleunigen. Dem südamerikanischen Fahrzeug fehlen ausserdem Standardhilfsmittel wie Scheibenwischer oder Blinker. Gerade der Blinker wird durch einen Zufallsgenerator ersetzt, der rein zufällig eine Richtung anzeigt, die aber nie der zukünftigen Fahrtrichtung entspricht. Anfänglich ist das etwas verwirrend, ist aber trotzdem sehr hilfreich: Ein links blinkendes Fahrzeug sollte man deshalb nichts rechts überholen und umgekehrt.

Völlig einzigartig sind die Fahrzeuge in Kolumbien. Die Fahrer scheinen ihr Auto nur mit dem Telefon steuern zu können. Kein Fahrer, der während der Fahrt nicht gerade über sein Telefon spricht, SMS schreibt, im Internet surft oder einfach eine „App“ installiert. Kolumbianischen Fahrern, die nicht auf ihrem Telefon rumtippen, misstraue ich grundsätzlich: Sie haben ihr Fahrzeug nicht im Griff, da dieses ja über das Telefon gesteuert wird! Die Kolumbianer sind wohl die ahnungslosesten Autofahrer. Sie wissen zu keinem Zeitpunkt, dass sie eigentlich im Auto sitzen. Sie glauben sie würden nur telefonieren.

Die ruchlosesten Fahrer sind die Peruaner. Ich behaupte, dass die Mehrheit unter ihnen eigentlich sterben möchte. Weil sie sich keine Sterbehilfsorganisation leisten können, fahren sie stattdessen Auto. So wurde ich in einer stehenden Kolonne vor einem Lichtsignal von einem Linienbus überholt. Dabei donnerte er auf der linken Gegenfahrbahn, entlang einer 300 Meter langen Verkehrsinseln, bei rot über eine vierspurige Kreuzung. Bereits wenige Kilometer später wurde er wieder von allen überholt, weil er mit seinen 60 km/h auf einer Autostrasse mit 100 km/h zum Verkehrshindernis wurde.

Am gefährlichsten ist aber der Verkehr Südamerikas, sobald die Autokolonne an einer der häufigen Baustellen zum Stehen kommt. Dann beginnt die Zeit der „Special Ones“ wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne. Die „Special Ones“ sind Verkehrsteilnehmer, die von allen Verkehrsregeln ausgenommen sind. Die „Special Ones“ sind zudem im irrwitzigen Glauben, dass ihr Fahrzeug Schaden nimmt, wenn es im Stau steht. Deshalb überholen sie die stehende Kolonne um jeden Preis, wenn nötig über den Pannenstreifen oder den Gehsteig! Ihre Überholmanöver sind sozusagen Notwehr um das eigene Auto nicht zu beschädigen. Pickups, grosse Lastwagen und Linienbusse sind am häufigsten von diesem sonderbaren Phänomen betroffen. Wer zum Beispiel einen Toyota Hilux mit einem Rammbügel fährt, der darf im Stau unter gar keinen Umständen anhalten, weil sonst sein Auto explodieren könnte.

Der Strassenverkehr in Südamerika ist vieles, aber bestimmt nie langweilig. Er fordert von mir die volle Aufmerksamkeit. Gerade in dicht besiedeltem Gebiet schalte ich die Musik oder das Hörbuch immer aus. Gleichzeitig ist der Verkehr nur nach vorne gerichtet. Dadurch, dass niemand in den Rückspiegel schaut, gilt die volle Aufmerksamkeit immer dem Vordermann. Das hat den Vorteil, dass ich zu jedem Zeitpunkt bei voller Fahrt wenden könnte. Alle hinter mir fahrenden Verkehrsteilnehmer würden mir auf magische Weise ausweichen. Einzig die Kolumbianer bräuchten etwas mehr Reaktionszeit. Sie müssten zuerst auf ihrem Telefon die Facebook „Live“ Funktion aktivieren, damit sie überhaupt sehen, was ausserhalb des Fahrzeuges vor sich geht.

Tatsache ist, dass wer in den Rückspiegel schaut für einen entscheidenden Augenblick vom Verkehr vor dem Auto abgelenkt ist. Vielleicht sollten wir Europäer auch einmal über diese Tatsache nachdenken.

Ich bin jedenfalls sicher, dass ich bei meiner Rückkehr kurz nach der Schweizer Grenze auf der Autobahn einnicken werde. Schweizer Autobahnen sind nach der Fahrt durch Südamerika einfach zu langweilig!

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*Ganz Südamerika ausser Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay.
** Die Fotos stammen aus dem Internewt. Sie wurden nixcht von mir geschossen.

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