#106 Grosses Finale

Ich bin bereit für meinen Abschiedsabend im Salsaclub 1830. Das 1830 ist nicht gerade der Insiderclub Havannas, doch hier habe ich getanzt und geschwitzt was das Zeug hält und mir zumindest den Respekt der Habaneros erarbeitet. So sitze ich mit Vorfreude in meinem Penthouse und weiss nicht, das Fidel – der Schlingel – andere Pläne für mich hat.

Tsssssszzzzz – flacker – tsaakkkkkk! Wie in einem schlechten Horrorfilm flackert das Licht sekundenlang, bevor es schlagartig erlischt! Zuerst denke ich es sei einer der sporadischen lokalen Stromausfälle. Der Blick zum Fenster zeigt mir aber: Fidel hat heute Grosses vor! Ganz „Centro Habana“ ist stockdunkel. Nichts, tiefdunkle Nacht, nur am fernen Stadthorizont ein scheues Glühen, ein Zeichen, dass nicht ganz Havanna ohne Strom ist. Zum Glück schalten sich im „Almejeira“, dem gigantischen Spital nebenan die Notbeleuchtung zügig ein. Wenigstens kommt wegen meiner Abschiedsüberraschung niemand zu Schaden.

Ich suche meine LED Taschenlampe mit Kurbelbetrieb aus dem Aldi und treffe mich mit meinen Nachbarn im Treppenhaus zum Tratsch. Klar sind alle vom Kurbelbetrieb meiner Lampe begeistert!

Scheinbar ist im Lift ein französischer Tourist eingesperrt. Der Lift mag von 1950 sein, doch meine Nachbarn sind nicht von gestern. Flink öffnen sie die Stockwerktür mit einem Besenstil. Der Tourist klettert problemlos aus dem Lift und wir versorgen ihn mit etwas Wasser. Im 6. Stock sind weitere Franzosen gestrandet, die in der Verwirrung im falschen „Casa Particular“* gelandet sind. Da der gemeine Franzose auch im Ausland keine Fremdsprache spricht und die Kubaner kein Französisch können, löse ich die Verwirrung auf. Hhhhm, sollte ich nochmals geboren werden, muss ich mich unbedingt daran erinnern wie nützlich das Erlernen von Fremdsprachen ist!

Ich schleiche mich übers Treppenhaus ins Quartier. Geisterhaft, wenn das bunteste, lebendigste und lauteste Quartier Habanas schlagartig still ist! Kein Wirrwarr an Reggeatonmelodien, kein Gespött, keine Anzüglichkeiten. Auf der Strasse sieht man kaum die Hand vor dem Gesicht. Ohne Taschenlampe käme ich keinen Meter weit. Einerseits ist „Centro Habana“ von Baustellen** übersät. Andererseits habe ich dem Quartier letztes Jahr den „goldenen Hundehaufen“ verliehen, der Preis für die grösste Hundekotdichte des Planeten (Siehe Blog „Centro Habana“). Nein, da willst Du ohne Licht nicht durch!

Erst früh morgens kehrt der Strom zurück. Die Rückkehr des Stroms ist ziemlich witzig: „Centro Habana“ ist um 4:50 Uhr hell erleuchtet und es klingt lauter Reggaeton durchs Quartier, da einige „Schlaumeier“ ihre Musikanlagen nicht ausgeschaltet haben. Von meiner Terrasse beobachte ich wie im Block nebenan ein Licht nach dem anderen gelöscht wird. Am nächsten Morgen erweist sich die Frage nach dem Zeitpunkt der Stromaufschaltung als stehender Witz: Pro Haushalt kann sich immer nur eine Person an den genauen Zeitpunkt erinnern, während die anderen durchgeschlafen haben. Meine statistisch nicht-signifikante Umfrage ergibt, dass Kubanerinnen deutlich tiefer schlafen als ihre Männer.

Wer denkt das war es, der kennt Kuba schlecht. Nach knapp sechs Stunden sind wir wieder ohne Strom, der heutige morgen war sozusagen der Ausfall des Stromausfalles. Nicht einmal das scheint hier richtig zu klappen. Um 11:00 steigt nämlich dicker schwarzer Rauch aus dem haushohen Transformator, der direkt an unser Gebäude angebaut ist. Nachdem selbst mein Penthouse im 8. Stock zur Raucherhöhle wird, schliesse ich die Fenster und verlasse das Gebäude – nicht aber ohne meine neue Spiegelreflexkamera einzupacken.

Was für ein Spektakel in einem Land in dem bereits der Alltag Spektakel genug wäre. Draussen steht die Feuerwehr und ein Dutzend Mitarbeiter des Stromwerkes mit Einsatzwagen. Dazu eine Meute Schaulustige, die mit ihren Telefonen das Geschehen filmen. Einige filmen sogar „zweihändig“, mit je einem Handy pro Hand. Der Dümmste der Schaulustigen bin aber ich. Ich stehe vor den Zuschauern und fotografiere mit dem Rücken zum Transformator die Gaffer. Plötzlich erklingt eine Serie von Explosionen, die wie Gewehrsalven durch Havanna schallen. Ich sehe wie sich die Meute vom Transformator entfernt und ich folge ihr. Nach einigen Sekunden der Ruhe kehren alle wieder zurück. Das wiederholen wir fast eine halbe Stunde lang. Dann brennt der Transformer unter einer Serie ohrenbetäubenden Knaller komplett aus. Wenn jetzt noch die apokalyptischen Reiter um die Ecke galoppieren würden, wäre ich nicht überrascht. Das alles erinnert mich doch sehr an das Zürcher Sechseleuten. Hehe, gemessen an der Dauer bis zur finalen Explosion steht „la Habana“ ein furchtbarer Sommer bevor.

Die Feuerwehr lassen den Transformator komplett ausbrennen, denn auch in Kuba ist Wasser und Strom eine schlechte Kombination. Einige Zuschauer spotten, dass die Feuerwehr den Löschschaum für die Schaumparties verkauft hätten.

Mit oder ohne Schaum, das Resultat ist dasselbe: Zwei Tage ohne Strom und einen Tag ohne Wasser, denn ohne Strom funktionieren auch die Wasserpumpen nicht. Am ersten Tag mag das noch romantisch sein, am zweiten Tag bereits mühsam. Ohne Strom keine Kommunikation, die Mobiltelefone können nicht geladen werden; ohne Kühlschrank keine frischen Lebensmittel; ohne Lift täglich acht Stockwerke zu Fuss hochsteigen und mit der Taschenlampe im Mund zu pinkeln ist auch nicht wirklich knackig!

Ja, lieber Fidel einmal mehr hast Du mich auf eindrückliche Weise auf meine Grundbedürfnisse reduziert. Danke, das war wieder einmal eine unbezahlbare Vorstellung: Ein Krisengebiet zu erleben ohne selber in Gefahr zu sein.

Die Moral der Geschichte:

• Unglaublich wie hilfreich Menschen in der Not sind.
• Gut in einem funktionierenden Staat geboren zu sein.
• Vergiss nie wie gut es Dir geht. Da du diesen Blog liest, hast Du Strom!

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* Privates Hostal.
** Momentan wird gerade die Stromversorgung erneuert. Diese stammt angeblich aus den 1940er Jahren und wurde als Prototyp der ersten unterirdischen Stromversorgung verlegt. Wooh, manche besuchen Museen, ich lebe in einem!

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